26 Februar 2006

Flagge zeigen

Kleines Personalvertretertreffen, ohne Stress und schon gar nicht konspirativ, auf der Terrasse der institutseigenen Cafeteria. Sinn des Treffens ist die Ausarbeitung einer gemeinsamen Strategie im Hinblick auf das grosse Treffen mit dem Big Boss nächsten Freitag. "Gemeinsam" auch deswegen, weil drei Institutionen beteiligt sind, das IFAL, das Casa de Francia und die Botschaft. Man kennt sich von einer Institution zur anderen kaum, die Erfahrungen als Personalvertreter sind unterschiedlich - meine Erfahrung tendiert übrigens gegen null. Christine war bereits Personalvertreterin, wie auch Araceli, wie auch Lucia, die seit mindestens dreissig Jahren in der Firma malocht und ein dementsprechend elefantastisches Gedächtnis in Sachen Personal hat.

Anderthalb Stunden später haben wir eine Tagesordnung aufgestellt, die einigermassen Kopf und Fuss hat. Ich frage mich zwar immer noch, welchem Arbeitsrecht wir unterliegen, dem mexikanischen oder dem französischen, aber wir fühlen uns gerüstet, die Revolution die Debatte in Angriff zu nehmen. Falls uns die Inspiration verloren geht, können wir immer noch zu Trotskys Haus im Süden der Stadt pilgern, wer weiss, vielleicht hilft's. Aber hört, hört? Fanfaren? Was geht denn jetzt ab? Hat jemand eine Revolution ausgerufen, ohne uns Bescheid zu sagen? Ich schau mal nach... Ach so, hatte ich ganz vergessen: heute, Freitag 24. Februar, ist dia de la bandera, Flaggentag, und soviel ich weiss ist Mexiko das einzige Land, in dem ein solcher Flaggentag überhaupt begangen wird. Die Fanfaren, das waren Schüler in ihrer Schuluniform, die durchs Viertel marschieren und sämtliche Flaggen darbieten, die Staatsflagge, die der einzelnen Bundesstaaten und sogar die der unvermeidlichen Jungfrau von Guadalupe, was mir in einem offiziell laizistischen Land wie Mexiko wenig orthodox erscheint. Aber egal; solange man Spass hat...

23 Februar 2006

Der Müll und ich

Bin von einer Frau angepflaumt worden, und das geschah so: ich hatte die Wohnung verlassen, war unterwegs in Richtung IFAL und schleppte einen grossen schwarzen Müllsack voller Hausmüll mit mir herum, den ich an der üblichen Stelle absetzen wollte. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich eine Frau, die in ihrem grossen Wagen offenbar Schwierigkeiten mit dem Einparken hatte. Ich stellte den Sack ab, tat ein paar Schritte, hörte ein kurzes Hupen, drehte mich um und - nanu? - die Dame hatte es mit mir.

"Entschuldigung", sagte sie, "Sie haben Ihren Müll vergessen!" Ich sagte, nö, ich habe gar nix vergessen, das sei der Ort, an dem die gesamte Nachbarschaft ihren Müll abstelle. Ich muss nicht sehr glaubwürdig geklungen haben. "Sie sind Ausländer, nicht wahr?". Ah ja, da haben wir's. Gleich würde sie mir einen Vortrag halten, dass ich im Grunde nicht mehr wert sei als das, was ich gerade abgestellt hatte, und dass ich mich als Ausländer eigentlich in aller Demut vor ihr verneigen müsste. Vor ihr und ihrer grossen Kiste. Die sich nicht einparken liess. Sie sagte, man müsse doch die Strassen sauberhalten. Ich sagte, die Müllabfuhr käme in zwei, drei Stunden, wie jeden Tag. Sie behauptete, die Müllabfuhr sei schon durch. Gut, damit gestand sie mir implizit, dass sie genau wusste, dass an dieser Stelle der Müll deponiert wird (was ja ein am Pfosten angebrachtes Schildchen beweist). Ich zuckte die Schultern und ging. Sie warf mir irgendein Schimpfwort hinterher, als Krönung ihrer durchdachten Argumentation. Hoffentlich hat sie wenigstens vor Ankunft der Müllmänner einparken können...

Und die Moral von der Geschicht'? Gibt's keine. Nur eine kleine Stadtgeschichte.

19 Februar 2006

Neue Gesichter

Die Luft wird spürbar wärmer. Letzte Kurve vor der grossen Hitze.

Die neuen Kurse haben begonnen. Man hat mir einen Fortgeschrittenenkurs und einen Diskussionskurs zugeteilt. Und noch meinen Philosophie-Workshop, der zur Hälfte aus Wiederholungstätern vom letzten Semester besteht. Ihnen zuliebe musste ich mein Konzept etwas abändern: keine philosophischen Texte mehr, sondern Nachrichten aller Art, die Philosophisches hergeben. Wir fangen übrigens gleich mit dem Karikaturenstreit an.

Spannend und wichtig zu Beginn ist es, seine Pappenheimer kennen zu lernen; wissen, mit wem man es zu tun hat. Viele neue Gesichter, darunter eine ehemalige Diplomatin, die in Rom, Tokio, Bonn und Ost-Berlin zu DDR-Zeiten stationiert war, eine Tänzerin, die eigene Performances kreiert und eine zeitlang in Essen studiert hat, eine Tanzlehrerin, spezialisiert auf hawaiische Tänze (man erhofft sich eine Kostprobe ihres Könnens!), die französisch in Polynesien gelernt hat, und dann wie immer viele Ingenieure, Chemiker, Übersetzerinnen, BWL-Studenten, Auswanderungswillige, oder solche, die schlicht in Paris oder Nizza oder Compiègne studieren wollen.

Da ich darauf bestehe, dass die Studis sich nicht selbst vostellen, sondern vom Nachbarn oder von der Nachbarin vorgestellt werden, kommen hin und wieder eigentümliche Sachen zum Vorschein: ein Kerl sagt von einer Kommilitonin, er kenne sie seit fünfzehn Jahren, sie sei eine wirklich nette Person (betont er), sie könne phantastisch Nudeln mit allen möglichen Saucen kochen (betont er ferner), und ausserdem sei sie über beide Ohren in Ewan McGregor verknallt. So genau wollte ich's eigentlich gar nicht wissen.

Bisher keine Nervensäge in Sicht.

17 Februar 2006

Welke Blätter 1

Einer der grossen Vorzüge des Internets ist ja, dass man Spuren von allen möglichen Leuten findet. Auch von Leuten, die nie vorhatten, im Internet verewigt zu werden, dank eines Kollegen, eines Bekannten-der-es-gut-mit-einem-meint.

Als ich 1987/88 mein Jahr an der Sorbonne absolvierte, lernte ich zwei Freundinnen kennen, weiss nicht mehr wo, wahrscheinlich in irgendeinem Hörsaal. Die eine, nennen wir sie Pauline, wohnte noch bei ihren Eltern, Grossbürgertum des 6. Arrondissements, Traditionalisten, kein Fernsehen, dafür erlesene Werkausgaben und Lexika von anno dazumal, sie selbst sehr katholisch, brachte den Kids anderer grossbürgerlicher Familien den Kateschismus bei. Die andere, nennen wir sie Agnès, ursprünglich aus der Normandie, hatte ein Zimmer im selben Gebäude bezogen, interessierte sich mehr für's Soziale und hatte eigentlich sonst nicht viel mit Pauline gemeinsam. Ich war wahrscheinlich in die eine oder andere verknallt, genau weiss ich es nicht, überhaupt wusste ich mit 22 nicht im Geringsten, was ich wollte. Hätte man mir gesagt, ich würde eines Tages aus Mexiko bloggen, ich hätte verwundert aus der Wäsche geschaut. Pauline und Agnès dagegen, nennen wir sie mal so, wussten schon damals genau, was sie wollten.

Nach einigem Stöbern im Netz steht nun fest, dass beide den festgesteckten Kurs ziemlich genau eingehalten haben. Pauline ist verheiratet, hat vier Kinder und ist immer noch mit dem Typ zusammen, den sie 1988 kennengelernt hat. Ich war dabei, als die Begegnung statt fand. Ein ziemliches Arschloch, dachte ich damals. Pauline wohnt jetzt in einem schmucken Dorf in der West-Banlieue, und ist immer noch für Kateschismus zuständig, jetzt als Mama. Agnès dagegen ist Lehrerin an irgendeiner Schule in der Ost-Banlieue. Sie ist ebenfalls verheiratet, trägt einen Doppelnamen und hat gerade eine Unterschriftenliste gegen irgendein neues Bildungsgesetz signiert.

Habe keine grosse Lust, mit beiden Kontakt aufzunehmen, was soll's, aber es tut gut zu wissen, dass es ihnen allen Anschein nach gut geht. Andererseits bin ich doch überrascht, wie wenig überraschend ihr bisheriges Leben verlief...

13 Februar 2006

Stunden für alle

Eine eher unerfreuliche Charakteristik meiner Funktion als frisch gewählter Personalvertreter ist es, dass ich von nun an reihenweise (unbezahlte) Überstunden ableisten muss. Überraschung. Heute nehme ich, der Transparenz wegen, an der traditionellen Vorverteilung der Kurse teil, schon am Dienstag beginnt das neue Semester. Die Stimmung ist mittelprächtig. Statt der erhofften langen Schlangen begeisterter Einschreibewilliger ist mehr oder weniger tote Hose. Man tröstet sich: es ist Samstag, das Wetter ist auch nicht gerade berauschend, wir stehen kurz vor der quinzena, d.h., die Mexikaner, die ihr Gehalt meistens vierzehntäglich und nicht monatlich ausbezahlt bekommen, sind so gut wie pleite, ausserdem war gerade verlängertes Wochenende etc. etc.

Der Montag wird hoffentlich besser, aber wie dem auch sei, die Kurse müssen verteilt werden, und zwar jetzt. Bei uns läuft's wie überall: Dienstalter hat Vorfahrt. Die dienstältesten Kollegen haben demnach Anrecht auf die Filetstücke: interne Kurse, die nicht zu früh beginnen, nicht zu spät enden. Für Neulinge dagegen wird's meistens knapp: externe Kurse, die ausserhalb des Instituts jottwedeh um sieben Uhr früh beginnen, reihenweise Vertretungen (kann ich ein Liedchen von singen...). Kopfzerbrechen bereitet, welches Kursangebot wir beibehalten, welches wir zurückziehen. Damit ein Kurs rentabel bleibt, müssen sich mindestens acht Schüler einschreiben. Angesichts des lauen Samstags sind wir auf Spekulationen angewiesen, beschliessen, den Anfängerkurs mit bisjetzt vier Teilnehmern einem bedürftigen Kollegen zu überlassen. Die ganze Prozedur dauert sieben stressige Stunden, auch wegen des schwelendes Konfliktes zwischen Institutsdirektor, der nach sechs Monaten immer noch nicht richtig Fuss gefasst hat, und der Leiterin der internen Kurse, die de facto wohl oder übel das gesamte Institut leitet. Am Ende braucht niemand am Hungertuch zu nagen (allerdings wären manche gut beraten, auf die Sonderangebote in ihrem Supermarkt zu achten).

10 Februar 2006

Vorträglich

In den zwei Wochen zwischen den Semestern ist am IFAL wie immer Weiterbildung angesagt, meistens Workshops, in denen neueste pädagogische Entwicklungen dargeboten werden. Man will ja nicht einrosten, sondern im Gegenteil seinen Fundus an Unterrichtsmaterialien erneuern. Da ich keine pädagogische Ausbildung genossen habe und überhaupt jahrelang jegliche pädagogische Ausbildung für ungeniessbar hielt, besinne ich mich auf meine universitäre Vergangenheit und schlage zwei Vorträge vor, einen über Michel Sardou, einen über Tintin, zu deutsch: Tim (und Struppi).

Bereits im Vorfeld löste die Ankündigung des Sardou-Vortrags etwas Befremden aus. In Deutschland ist Michel Sardou ungefähr so bekannt wie Herbert Grönemeyer in Frankreich, nämlich gar nicht, in seinem Heimatland dagegen ist er ein Superstar, und das immerhin schon seit rund dreissig Jahren. Das Problem ist die Kontroverse um Sardou, wurde er doch nicht selten als Fascho oder reaktionärer Spiesser verurteilt. Eben drum musste ich mehr als mir lieb war Kollegen gegenüber beteuern, ich sei ganz bestimmt kein Sardou-Fan, und ich bin auch tatsächlich keiner, nicht aus irgendwelchen dämlichen gesinnungsästhetischen Gründen, sondern einfach weil Sardou mir textlich und musikalisch zu pompös, zu kitschig und zu dürftig ist. Was mich aber nicht hindern soll, trotzdem einen Vortrag über seine umstrittenste und militanteste, 1976 erschienene Platte zu halten.

Sardou war im Grunde genommen nur der Vorwand, einige Thesen der gender studies zu illustrieren und nachzuweisen, dass im Frankreich der Seventies eine Männlichkeitsdebatte statt fand, die allerdings weitgehend unbeachtet blieb. Nicht zuletzt wegen Sardou selbst: einer der Songs, "Je suis pour" ("Ich bin dafür") war ein Statement zur Todesstrafe und erregte bei Erscheinen so sehr die Gemüter, dass Sardou bei der folgenden Tour nur unter Polizeischutz die Bühne betreten konnte und seine letzten Tourdaten entnervt cancelte. Immerhin war die Todesstrafe in Frankreich damals noch legal, die Guillotine wurde erst 1981 eingemottet. Zieht man jedoch die anderen Lieder des Albums hinzu, wird schnell deutlich, dass es Michel Sardou um die Verteidigung der männlichen Tradition, des starken, dominanten Mannes in der Ära des Feminismus geht. Die Verhängung der Todesstrafe als Racheakt ist nur ein Teilaspekt davon. Kein leichtes Spiel, dessen wird sich Sardou bewusst, und gegen Ende der Platte bläst er zum Rückzug, ins nostalgisch verklärte Frankreich der Vorkriegszeit, des kolonialen Imperiums. Schliesslich, als alle Stricke offenbar gerissen sind, in eine Utopie und Uchronie, wo er als "roi barbare" ("Barbarenkönig") doch noch seinem Männlichkeitswahn frönen darf. Dort, und nur dort. Das zu dramatisieren, dafür verdient Sardou Respekt. Doch schon im selben Jahr entwickeln andere Gesangsartisten Gegenmodelle, dekonstruieren mit viel Humor Männlichkeitsriten und prägen für die nächsten Jahre ein neues Männlichkeitsbild. Dem allerdings auch keine grosse Zukunft beschieden sein wird.

Der Tintin-Vortrag hatte wegen des Karikaturenstreits ein paar aktuelle Bezüge und basierte auf einem Aufsatz, den ich vor Jahren schon in Greifswald veröffentlicht hatte, aufgemöbeltes Recycling also. Ich hatte das Konzept des iconic turn aufgegriffen und für eine transdisziplinäre Bildwissenschaft plädiert, zumal wir in unseren Kursen reihenweise Bilder von überall her benutzen und dementsprechend auch die Kompetenz brauchen, ein Bild deuten zu können - auch und gerade im Hinblick auf kulturelle Missverständnisse. Immerhin sind wir schon so weit, dass in Lehrbüchern zu Französisch als Fremdsprache keine Schweinefleischprodukte abgebildet sind, da die Verleger ja auch in islamische Länder verkaufen wollen

07 Februar 2006

Zeit ist Geld ist Zeit

Oh nein. Nicht schon wieder. Muss das sein? Anscheinend ja. Wieder einmal also haut mir einer diesen abgedroschenen Spruch um die Ohren: Zeit ist Geld. Im Wörterbuch für Dummdeutsch hat der Spruch längst seinen angestammten Platz, aber solange wir unter der Fuchtel des ökonomischen Denkens leben und (vor allem) arbeiten, wird uns das nicht erpart bleiben. Und, tja, wenn sich alles auf minimal input/maximal output reduziert, dann ist Zeit wirklich Geld (und umgekehrt). Wie heisst es noch so schön im Volksmund? Das Geld heilt alle Wunden.

Der eigentliche Grund für diesen Auspruch war die heutige Visite unseres Herrn Kulturattachés, gleichzeitig der eigentliche Big Boss unseres Instituts. Eigentlich ein umgänglicher, gebildeter Mann. Nur wenn's um Geld geht (oder um Zeit?), wird er manchmal ungemütlich. Dabei handelt es sich doch nur um einen befristeten Arbeitsvertrag für Nathalie und ein damit verbundenes jämmerliches Monatsgehalt von umgerechnet 1000 Euro, dann könnte man endlich mit diesem E-Learning-Projekt vorankommen...

Wir sollen erstmal, sagt der Boss, eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufstellen, dann könne man weiterreden und -rechnen. Im Nachhinein denke ich, wollte er bloss Zeit schinden. Oder Geld. Oder beides.

04 Februar 2006

Der Pazifik, endlich

Historisch, meinedamunherrn: am 28. Januar gegen Mitternacht fand erstmals zwischen dem Pazifik und mir eine Begegnung der dritten Art statt. Für meine Adidas-Turnschuhe war es sogar eine Begegnung der endgültigen Art, da sie nach übermässigem Meerwasserkontakt nun so gut wie futsch sind. Andererseits: war Paris schon eine Messe wert... Und überhaupt, als Julius Cäsar den Rubicon überschritt und seine Aleas jacte, stand ihm mit Sicherheit nichts weniger im Sinn als seine Legionärssandalen (anderslautende Überlieferungen sind Fälschungen).

Der Pazifik also. Für einen Durchschnittseuropäer bleibt das nach wie vor faszinierend. Man bedenke, das nächste Festland, das wären die Philippinen. Einige werden sich wundern, wieso ich nach über vier Jahren Mexiko jetzt erst zum Pazifik gelange, wo doch die Küste nur knapp fünf Stunden Busfahrt von der Haupstadt entfernt ist. Ehrlich gesagt, keine Ahnung. Wir hatten das Projekt mehrmals ins Auge gefasst, dann verschoben und wieder verschoben und letztlich musste Kollegin Delphine die Idee haben, ihre despedida in Pie de la Cuesta zu feiern, bis wir uns den notwendigen Ruck geben konnten. Als Kölner rennt man ja auch nicht täglich in den Dom, der läuft einem ja nicht fort. Der Pazifik ebensowenig. Übrigens, darf ich vorstellen?

Ich habe das Bild etwas retuschiert, mehr türkis für's Meer. So kleine Bildbearbeitungsprogramme wirken manchmal Wunder...